Jugendliche sehen sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die an sie komplexe Aufgaben stellt: bei der Bewältigung von alltäglichen Situationen in der Familie, in der Freizeit, in der Schule oder bei der Planung einer beruflichen Perspektive. Sie müssen einen eigenen Lebensentwurf entwickeln und in der Lage sein, diesen immer wieder zu hinterfragen und angesichts sozialer, kultureller und wirtschaftlicher Veränderungen gegebenenfalls zu verändern.
Dafür brauchen Jugendliche – neben einer soliden Schul- und Berufsbildung – Fähigkeiten, die sich weniger auf die Anwendung von Wissen als vielmehr auf einen selbstorganisierten Umgang mit Aufgaben und Problemen beziehen. Sie brauchen Gewissheit über die eigenen Stärken, Mut, die Dinge kritisch zu betrachten, Vertrauen in die eigene Kraft und die Bereitschaft, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen.
Solche Kompetenzen sind eine wichtige Startbedingung für die Entfaltung der Persönlichkeit, für die Mitgestaltung gesellschaftlicher Prozesse und auch für beruflichen Erfolg. Sie werden nicht nur in der Schule oder in der Ausbildung erworben. Kulturelle Bildung, die mit ihren vielfältigen Angeboten viel Freiraum für eigenes Gestalten, für Fantasie und (Selbst-) Ausdruck gibt, bietet dafür ein besonderes Lern- und Erfahrungsfeld. Gefordert und gefördert werden Kompetenzen wie zum Beispiel Zuverlässigkeit und Verantwortungsbewusstsein, Ausdauer und Belastbarkeit, Kommunikationsvermögen und Teamfähigkeit.
„Das habe ich im Theater gelernt“
Die Förderung von Kompetenzen ist ein wichtiges Anliegen kultureller Kinder- und Jugendbildung. Kreativität, soziales Interesse, Verantwortungsbereitschaft und Selbstbewusstsein werden im aktiven Umgang mit den Künsten oder den anderen Arbeitsformen der Kulturellen Bildung gefördert. So unterstützen z.B. Theater, Tanz, Rhythmik, Zirkus, Musik, Literatur, Medien und Bildende Kunst Kinder und Jugendliche, sich in der Welt selbstorganisiert zurechtzufinden. Diese Erfahrung machen die Fachkräfte kultureller Bildungsarbeit jeden Tag bei ihrer Arbeit und das erfahren die Jugendlichen auch immer wieder selbst.
Beispielsweise ist eine 18-Jährige seit sieben Jahren Mitglied einer Theatergruppe in einem Theaterpädagogischen Zentrum. Sie macht gerade eine Ausbildung zur Optikerin. Immer wieder stellt sie fest, dass ihr die bei der Theaterarbeit entwickelten Kompetenzen helfen. Als sie zum Beispiel für eine erkrankte Kollegin im Verkauf aushelfen soll, ist sie zuerst erschrocken: „Das habe ich doch noch nie gemacht!“ Aber nach dem ersten Tag muss sie selbst feststellen, dass sie sich ganz schnell in die Situation eingefunden hat. Sie erklärt ihren Erfolg: „Improvisieren – das habe ich im Theater gelernt“.
Ein 15-Jähriger berichtet, dass er vor einiger Zeit begann, kontinuierlich im Kinder- und Jugendzirkus aufzutauchen. Zunächst nur selten, dann aber mit großer Regelmäßigkeit, obwohl ihm das Durchhalten manchmal sehr schwerfiel. Er nahm regelmäßig am Training teil, weil er ansonsten keine Fortschritte wie die anderen hätte machen können: „Das hat mich angespornt. Ich wollte dabei sein!“. Mittlerweile beherrscht er nicht nur die Jonglage und das Einradfahren, sondern übernimmt auch gerne die Rolle des Zirkusdirektors bei Aufführungen. Er sagt: „Wenn man etwas kann, kann man auf sich selbst stolz sein“.
Der Kompetenznachweis Kultur – Stärken junger Menschen sichtbar machen
So wie die beiden verbringen viele Jugendliche ihre Freizeit in kulturpädagogischen Einrichtungen und Projekten wie Kunst- und Musikschulen, Theater- und Tanzwerkstätten, Literaturbüros oder Medienzentren, im Kindermuseum, im Jugendzirkus. Dass junge Menschen in dieser Zeit viel lernen – auch jenseits der eigentlichen künstlerischen Fähigkeiten – steht für alle Beteiligten außer Frage. Kulturelle Bildungsarbeit fördert eine Vielzahl von Kompetenzen: Kreativität, Teamgeist und Selbstbewusstsein, Durchhaltevermögen und Flexibilität, Organisationstalent und Improvisationsfähigkeit, um nur einige zu nennen.
Die Angebote der kulturellen Bildungsarbeit bieten für viele junge Menschen wichtige Lernchancen. Die gesammelten Erfahrungen prägen ihre Persönlichkeit, ihre Lebensentwürfe und ihre Sicht der Dinge. Vor allem treten hier ihre Stärken in den Vordergrund, von denen sie manchmal selbst gar nichts ahnen. Stärken, die es wert sind, anerkannt zu werden. Bis zur Einführung des KNKs im Jahr 2005 gab es für diese Lernerfahrungen keinen sichtbaren Nachweis und damit wenig Anerkennung für die in der kulturellen Bildungsarbeit gezeigten Kompetenzen. Die Wirkungen Kultureller Bildung sichtbar zu machen und Jugendliche durch eine deutliche Anerkennung ihrer individuellen Leistungen zu unterstützen, ist Ziel des Kompetenznachweises Kultur.
Der Kompetenznachweis Kultur ist ein individueller Bildungspass. Er entsteht im Dialog mit der*dem Jugendlichen und der*dem Kompetenzberater*in und dokumentiert schwarz auf weiß die in der kulturellen Bildungsarbeit gezeigten Stärken von Jugendlichen. Er wurde in enger Zusammenarbeit mit Praktiker*innen der kulturellen Jugendbildung, mit Wissenschaftler*innen aus der Kompetenzforschung und Vertreter*innen der Wirtschaft entwickelt.
Seit 2005 wurde der Kompetenznachweis Kultur von dafür fortgebildeten Kompetenzberater*innen an tausende Jugendliche vergeben und ständig weiterentwickelt. So kann dieser auch in schulischen Kulturprojekten, in künstlerisch-kulturellen Angeboten im Kontext von Ganztag oder in der Arbeit mit Geflüchteten und internationalen Freiwilligen in Deutschland vergeben werden.
Der Kompetenznachweis Kultur besteht aus einer prägnanten Beschreibung der künstlerischen Aktivitäten und der dabei deutlich gewordenen individuellen Stärken des Jugendlichen. Zum Nachweis von Kompetenzen wurde ein Verfahren entwickelt, das haupt-, neben- und ehrenamtliche Fachkräfte der Kulturellen Jugendbildung in Fortbildungen erlernen können.
Besondere Kennzeichen: freiwillig und individuell
Jede*r Jugendliche entscheidet selbst, ob sie*er für Aktivitäten in der kulturellen Bildungsarbeit einen Kompetenznachweis Kultur erhalten möchte. Darüber hinaus gehört es zum Konzept, dass Jugendliche aktiv an der Erarbeitung ihres Kompetenznachweises Kultur mitarbeiten. Der persönliche Dialog und der konkrete Bezug zum beobachtbaren Handeln machen den Kompetenznachweis Kultur für die Jugendlichen wertvoll, da sie aktiv in die Erarbeitung ihres Kompetenznachweises mit eingebunden sind.
Für sie werden Begriffe wie Team- oder Reflexionsfähigkeit lebendig, weil sie (durch Selbst- und Fremdwahrnehmung) erkennen, dass sie genau das tun, was mit diesen Begriffen gemeint ist.
Auf diese Weise werden sie für ihre eigenen Stärken sensibilisiert. Der Kompetenznachweis Kultur gibt der*dem Jugendlichen eine deutliche Wertschätzung für das, was er*sie im Rahmen eines kulturpädagogischen/künstlerischen Projekts geleistet hat – und die*der Jugendliche gibt sich durch ihre*seine Mitarbeit diese Wertschätzung auch selbst. Dies ist ein entscheidender Unterschied zum
Zeugnis oder zur Teilnahmebescheinigung.
Der gesamte Prozess bis zur Fertigstellung des Kompetenznachweis Kultur lebt von Partizipation und – durchaus kritischer – Reflexion. Die Teilnahme stellt somit für die Jugendlichen eine Anforderung dar, die selbst wiederum Kompetenzen fordert und fördert.
In Bewerbungsgesprächen kann der Kompetenznachweis Kultur Impuls für ein Gespräch über die besonderen Fähigkeiten sein. Die*Der Jugendliche spiegelt in diesem Gespräch das, was der Kompetenznachweis Kultur beschreibt, glaubhaft wider und kann über die kulturell-künstlerische Arbeit sowie über den Prozess zum Kompetenznachweis Kultur Auskunft geben, weil sie*er aktiv beteiligt war.
Kompetenzen erfassen und nachweisen
Um den Kompetenznachweis Kultur in der Praxis anwenden zu können, müssen Fachkräfte in einem gemeinsamen Prozess mit den Jugendlichen den Blick schärfen für das, was in einem Kurs oder Projekt gelernt werden kann und welche Wirkung die Teilnahme auf den Einzelnen hat. Um dies tun zu können, hat die BKJ fünf Arbeitsschritte entwickelt, die an die tägliche Praxis von Fachkräften kultureller Jugendbildung anknüpfen:
- Schritt: Erstellung einer Praxisanalyse
Systematisch arbeitet die Fachkraft im Vorfeld heraus, welche Anforderungen die Jugendliche in dem konkreten kulturell-künstlerischen Projekt bewältigen müssen und welche Kompetenzen dort potenziell erworben werden können. Hierfür stehen Materialien zur Verfügung, die helfen, diese Systematik zu erarbeiten (Tableaus der Kultursparten). - Schritt: Beobachtung
Mit Beginn des Projektes beobachten Fachkraft und Jugendliche*r, wie diese Anforderungen bewältigt werden und welche Kompetenzen sich immer wieder zeigen. Die*Der Jugendliche schult hierbei ihre*seine Selbstwahrnehmung, in dem sie*er sich und das jeweilige Tun in den Blick nimmt. - Schritt: Dialog
In Gesprächen tauschen sich Fachkraft und Jugendliche*r über ihre Beobachtungen aus. Es geht darum herauszufinden, welche Stärken die*der Jugendliche bei sich entdeckt. Dieser Dialog kann einzeln, in der Gruppe oder auf eine spielerische Weise stattfinden. Wichtig ist, dass Fachkraft und Jugendliche*r auf Augenhöhe miteinander reden, um Selbstreflexionsprozesse möglich zu machen. - Schritt: Beschreibung
Fachkraft und Jugendliche*r stimmen sich darüber ab, welche Kompetenzen in den Komptenznachweis Kultur aufgenommen werden sollen. Im Mittelpunkt stehen die individuellen Stärken und Fähigkeiten der*des Jugendlichen, die bei dem konkreten Projekt gezeigt wurden. Der abschließende kurze Text macht dies auch für Dritte nachvollziehbar. - Schritt: Vergabe
Eine öffentlichkeitswirksame Verleihung als letzter Schritt ist sinnvoll, um das Projekt bekannt zu machen. Die Verleihung kann aber auch im kleinen Rahmen stattfinden oder – auf Wunsch des Jugendlichen – auch in einem privaten Rahmen. Zu einer kleinen „Feierstunde“ an einem besonderen Ort können Eltern, Politiker*innen und die Presse eingeladen werden.